Jan.

2019

Vor 30 Jahren: Das Erdbeben in Armenien

Im Norden des heutigen Armeniens zerstörten am 7. Dezember 1988 Erdbeben mehrere Städte und Dörfer. Es war der erste Einsatz der Schnell-Einsatz-Einheit Bergung Ausland (SEEBAdes THW, die 65 der insgesamt 186 SEEBA-Kräfte im Einsatz stellte. Er forderte neben Bergungs- und Räumarbeiten auch die logistischen Fähigkeiten des THW.  Zwar bewährte sich die Struktur der neuen Auslandseinheit, doch der Einsatz zeigte auch, wie schlecht die internationale Gemeinschaft vorbereitet war. Heute bezeichnet der Einsatz den Beginn internationaler Kooperation und Standards.

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Gerd Friedsam, heute Vize-Präsident des THW, war damals Teil der internationalen Hilfskräfte.

Das Beben

Karte Armeniens mit Epizentrum und den Städten Leninakan, heute Gyumri und der ehemaligen Lage Spitaks.

So weit lag die Stadt Spitak vom Epizentrum entfernt. Nach dem Beben wurde die Stadt aufgegeben und an anderer Stelle neu erbaut. Quelle: dlca

Die Erdbeben am 7. Dezember 1988 zerstörten im Norden des heutigen Armenien eine ganze Region. Das Epizentrum lag nur 18 Kilometer nord-nordwestlich der 20 000 Einwohnerstadt Spitak, sie wurde beinahe gänzlich ausgelöscht. Leninakan, das heute Gyumri heißt, war die zu dieser Zeit zweitgrößte Stadt Armeniens. Mit ihren 225 000 Einwohnern lag sie 25 Kilometer südöstlich des Epizentrums. Hier hielten über zwei Drittel der Gebäude nicht stand. Die Beben kosteten mindestens 25 000 Menschen das Leben und hinterließen mehr als 31 000 Verletzte.

Das Beben und seine Folgen in Kürze

Hauptgründe für die hohen Opferzahlen waren die fragile Bauart vieler Gebäude und die Kälte. Die einstürzenden Bauten begruben Tausende. Viele erfroren, bevor sie gerettet werden konnten.

Mehr als 514 000 Menschen wurden innerhalb weniger Minuten obdachlos.

Die Welt rückt zusammen

Das Beben traf die Sowjetunion (UdSSR) ein knappes Jahr vor dem Ende des Kalten Krieges. Die Beziehung zwischen den kommunistischen Staaten unter Führung der Sowjetunion und den sogenannten Westmächten, besonders den USA, aber auch West-Deutschland, war zerrüttet. Dennoch bietet das Auswärtige Amt in Bonn angesichts des Ausmaßes der Katastrophe Unterstützung an. Am Abend des 09. Dezember 1988 ergeht ein internationales Hilfeersuchen der sowjetischen Regierung. Das Auswärtige Amt erteilt einen Einsatzauftrag, unter anderem für das Technische Hilfswerk (THW).
Innerhalb von vier Stunden stehen 65 Kräfte der Schnell-Einsatz-Einheit Bergung Ausland (SEEBA) bereit. Um die häufig zerstörte Infrastruktur in Erdbebengebieten nicht zusätzlich zu belasten, ist die Einheit darauf vorbereitet, 14 Tage autark zu agieren. Mit zwölf Tonnen Gepäck fliegen die Einsatzkräfte von Frankfurt in die armenische Hauptstadt Yerevan.

Flughafen Yerevan

Yerevan selbst ist nicht betroffen, jedoch geht der kleine Flughafen angesichts der internationalen Hilfsbereitschaft an seine Grenzen: Starten und landen dort normalerweise im Schnitt etwa fünf internationale Flüge am Tag, sind es nach dem Erdbeben zeitweise mehr als 250.

Zur Bilderstrecke: 30 Jahre Spitak

Einsatz des THW

Die Kräfte der Schnell-Einsatz-Einheit Bergung Ausland erreichen Spitak am Abend des 10.12.1988.

Ausschnitt aus dem Bericht des Schnell-Einsatz-Einheit Bergung Ausland (SEEBA).

Ausschnitt aus dem Bericht des Schnell-Einsatz-Einheit Bergung Ausland (SEEBA). Quelle: THW

zugewiesener Lagerplatz

Die Einsatzbedingungen sind schwer, die Stadt und jegliche Infrastruktur sind völlig zerstört. Krankenhäuser haben das lokale medizinische Personal unter sich begraben. Bei Temperaturen unter dem Gefrierpunkt und Nachttemperaturen von bis zu minus 20 Grad Celsius suchen Einsatzkräfte und Einheimische nach Überlebenden. Da auch die Gebäude der Stadtverwaltung zerstört und ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter unter den Opfern sind, gibt es zudem keine verlässlichen Quellen darüber, wo noch Verschüttete zu suchen sind.

Im Abschlussbericht der Einsatzkräfte wird stehen:

„Die Stadt Spitak ist zu 100% zerstört. […] Trotz ununterbrochener Suche konnten in der gesamten Stadt kaum Lebende geortet werden, Verweise von Hunden führten in der Regel zu Totbergungen.“

 

Karte mit den Einsatzgebieten des THW aus dem Zivilschutz-Magazin, Ausgabe 12/88, aus dem Dezember 1988.

Karte mit den Einsatzgebieten des THW aus dem Zivilschutz-Magazin, Ausgabe vom Dezember 1988. Quelle: Zivilschutz-Magazin, Ausgabe 12/88

Am 13.12. wird die Suche nach Überlebenden von sowjetischer Seite offiziell eingestellt. Die SEEBA-Kräfte reisen ab und fliegen am 15. Dezember zurück nach Deutschland.

Schweres Gerät

Für die weitere Bergung von Toten und für Räumarbeiten fliegen am 13. Dezember 76 THW-Kräfte mit Bergungsräumgeräten nach Yerevan.

Außerdem entsendet Deutschland am 21. Dezember eine Ablösemannschaft mit 43 Hilfskräften. Mit insgesamt sechs Bergungsräumgeräten arbeiten die Mannschaften trotz Kälteeinbruchs und starken Schneefalls bis zu 19 Stunden am Tag.

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Nach Beendigung des Einsatzes verbleiben die Bergungsräumgeräte sowie weiteres technisches Gerät für weitere Räumarbeiten in Armenien.

Lessons Learned

Die nach und nach eintreffende internationale Hilfe für Armenien im Jahr 1988 war kaum koordiniert. Nur wenige Absprachen bestanden vor Abflug, ein gezieltes Vorgehen im Einsatz organisierten die Hilfsorganisationen erst vor Ort. Dabei ging wertvolle Zeit verloren. Das hatte beispielsweise zur Folge, dass bereits durchsuchte Gebäude nicht wie heute nach internationalem Standard markiert und deshalb mehrfach von Einsatzkräften durchsucht wurden.

Die Zahl der Opfer war einfach zu groß, um alle zu retten. Dennoch sind die ersten 72 Stunden nach einer Katastrophe besonders kritisch, um verletzte Verschüttete retten zu können. Die verlorene Zeit hatte in Armenien wegen der nächtlichen Temperaturen besonders gravierende Folgen. Im Abschlussbericht der Einsatzkräfte des THW steht:

„[…] unter den Trümmern in Armenien sind zahlreiche Tote geborgen worden, die eindeutig erfroren sind, weil die Bergung zu spät erfolgte.“

Die zur Verfügung stehenden Ressourcen konnten von der sowjetischen Einsatzleitung vor Ort auch deshalb nicht optimal genutzt werden, weil beispielsweise Fähigkeiten bestimmter Einsatzgruppen nicht bekannt waren. In einem Bericht fassten die Nationalen Rotkreuz- und Rothalbmond-Gesellschaften die Lage 1991 wie folgt zusammen:

“[N]ot only was there a lack of coordination between international teams on the ground, but often the local authorities had no idea what the specialist teams were capable of, what equipment they had brought with them and even which teams had actually arrived”.
(deutsche Übersetzung: „Es gab nicht nur einen Mangel an Koordination zwischen den internationalen Teams am Boden, sondern häufig auch einen Mangel an Wissen der Autoritäten vor Ort über die Fähigkeiten und Ausstattung der Expertenteams oder darüber, dass diese überhaupt angekommen waren.“)

Im Bericht des THW-VerbKdo (THW-Verbindungskommando, zuständig für Koordinierung und Weiterleitung deutscher Hilfsgüter) wird die Lage in Armenien wie folgt beschrieben:

Ausschnitt aus dem Abschlussbericht des THWAusschnitt aus dem Abschlussbericht des THW

*Dislozierung: Der Begriff beschreibt, wie Einsatzeinheiten mit bestimmten Aufgaben im Einsatzgebiet verteilt sind
Quelle: THW

INSARAG – Die Internationale Gemeinschaft reagiert

Der Einsatz in Nordarmenien sowie ein vorausgegangenes Erdbeben in Mexiko 1985 stießen einen Prozess an, der bis heute nachwirkt.
Im Einsatz hatten verschiedene Hilfsorganisationen, auch unterschiedlicher Länder, aus der Situation heraus Wege gefunden, gemeinsam zu arbeiten. Aus diesen Erfahrungen entstand zunächst der D-A-CH-Verband. Deutschland (D), Österreich (A) und die Schweiz (CH) begannen, über gemeinsame Standards und Koordinierung zu sprechen.

1991 ging aus diesem Zusammenschluss die International Search and Rescue Advisory Group (INSARAG) hervor. Als Plattform zur Koordination von Erdbeben und anderen Umweltkatastrophen entwickelte die INSARAG in den folgenden Jahren ein erstes Regelwerk für die Suche und Rettung in dicht besiedelten Gebieten (auch Urban Search and Rescue (USAR) genannt). Besonders wichtig dabei, dem betroffenen Land soll die Koordinierung der verschiedenen Kräfte erleichtert werden.

Zur Zusammenarbeit mit anderen Organisationen berichteten die Einsatzkräfte wie folgt von ihren Erfahrungen:

Ausschnitt aus dem Abschlussbericht des THW

Fehlende Informationen an der Basis kosteten wertvolle Zeit. (Fett-Markierungen im Text erfolgten durch die Redaktion.)

Seit 2002 ist die INSARAG durch die UN-Vollversammlung anerkannt und dem UN-Büro zur Koordinierung von humanitären Angelegenheiten (OCHA) zugeordnet.
Um eine Zertifizierung durch INSARAG zu erhalten, müssen die Einheiten alle fünf Jahre nachweisen, dass sie den internationalen Standards entsprechen. Dazu gehören neben Ausstattung, Besetzung und Einsatztaktik, dass sich die Einheiten ständigen Ausbildungs- und Weiterbildungsmaßnahmen unterziehen und aktiv in der INSARAG mitarbeiten.

Die SEEBA wurde erstmals 2007 zertifiziert und erhielt zuletzt 2017 ihre Rezertifizierung.

Heute gehören der INSARAG über 90 Bevölkerungsschutzorganisationen weltweit an.

Heute: OSOCC – Struktur im Chaos

Heute gibt es nach solchen Katastrophen ein immer gleich ablaufendes Verfahren der Vereinten Nationen: Das betroffene Land stellt ein sogenanntes internationales Hilfeersuchen. Im virtuellen Vor-Ort-Einsatz-Koordinierungszentrum der Vereinten Nationen (englisch: On-site Operations Coordination Centre, kurz OSOCC) werden Bedarfe und Voraussetzungen vor Ort definiert, an denen sich entsendende Länder dann orientieren können.

Sie übermitteln, welche Teams sie bereitstellen, welche Fähigkeiten und Ressourcen diese haben oder benötigen und wie die Teams vor Ort (beispielsweise per Satellit) zu erreichen sind. Die Vereinten Nationen oder die Europäische Union stellen außerdem vor Ort die Einsatzleitung zur Koordination der verfügbaren Kräfte.

Screenshot des virtuellen Vor-Ort-Einsatz-Koordinierungszentrum der Vereinten Nationen (englisch: On-site Operations Coordination Centre, kurz OSOCC).

Screenshot des virtuellen Vor-Ort-Einsatz-Koordinierungszentrum der Vereinten Nationen (englisch: On-site Operations Coordination Centre, kurz OSOCC). Hier als Beispiel eine Übung in Armenien: Noch bevor Einsatzkräfte sich auf den Weg machen, können sich Einsatzleitende weltweit ein Bild von der Lage machen. Quelle: OSOCC

Diese Strukturen erleichtern Einsätze unter schwersten Bedingungen. „Das hat viele Jahre gedauert“, sagt Gerd Friedsam rückblickend, „hier einheitliche, weltweit geltende Standards zu setzen.“
Für ihn ist klar: „Das war eine der großen Lehren aus Spitak und Leninakan, dass man an diesem Thema international arbeiten muss.“

Zur Erinnerung an die Opfer des Erdbebens finden in Gyumri und der Region jedes Jahr Gedenkveranstaltungen statt, an denen regelmäßig THW-Angehörige teilnehmen.

THW-Delegation bei einer Gedenkveranstaltung zum 30jährigen Jahrestag des Erdbebens von Spitak in Armenien, Gyumri.

Zum Jahrestag reiste eine Delegation von THW und DRK nach Gyumri (ehemals Leninakan). Quelle: Deutsche Botschaft Eriwan